Unser Flüchtling – bleibt.

Zwei Wochen waren veranschlagt. Für ein erstes Schnuppern, ein erstes Umschauen. Dann, so war die Planung, würde er in die USA zurückgehen um seine Verhältnisse zu ordnen, sich anständig von seinem bisherigen Leben und seiner Familie zu verabschieden.

Die Zeit verging wie im Fluge.

Das Experiment ist jenseits aller Erwartungen gut ausgegangen; Derek wurde von der gesamten Familie begeistert aufgenommen. Nun war das auch nicht weiter schwierig, denn er erwies sich nach wenigen Tagen des Auftauens als sehr humorvoller, grundfröhlicher und positiver Mensch, der mit seiner Lebensauffassung hervorragend in unseren Haufen passt.

Gestern richtete unser Zweitältester im Nachbardorf bei sich zuhause eine Verabschiedungsparty mit Grillen und allem drum und dran für Derek. Es wurde ein lauter und bunter, fröhlicher Spaß, in den sich nur ab und zu eine kleine Stille breitmachte, wenn sich die Runde an sein Fortgehen erinnerte.

Noch in der Nacht überschlugen sich dann die Ereignisse.

Er war offenbar in den Armen unserer Tochter in Tränen ausgebrochen. Heute im Flugzeug mit Kurs auf die USA sitzen zu sollen, war ihm eine schier unmögliche und höchst schmerzhafte Vorstellung. So trommelte uns unsere Tochter mitten in der Nacht aus dem Bett und eröffnete uns zusammen mit ihm, dass er auf den Flug, seine Heimat, sein bisheriges Leben und seine Familie pfeifen und ganz einfach hierbleiben würde.
Wir waren nicht schockiert. Angesichts der Wirkung, die er in den vergangenen zwei Wochen immer wieder bei besonderen und alltäglichen Ereignissen unseres Familienlebens zeigte, hatten wir uns mit der Tochter bereits klammheimlich auf genau diesen Moment innerlich vorbereitet.

Sie hatte sein Leben, seine Arbeit und seine Familie kennengelernt – und schilderte sie uns bereits in düstersten Farben, als sich die beiden gerade in den USA kennengelernt hatten. Ihm blieb die Unannehmlichkeit, uns diese Verhältnisse selbst schildern zu müssen, somit erspart.
Während unsere Tochter bereits vor Monaten berichtete, wich unsere Gesichtsfarbe. Seine Lebensumstände zuhaus sind wirklich erschreckend und entsetzlich und wir begannen zu verstehen, warum er zum spontanen Abbrechen aller Beziehungen so leichten Herzens in der Lage ist.
Es ist nicht so, dass seine Familie aus Underdogs bestehen würde; sie befindet sich keinesfalls am untersten Gesellschaftsrand der USA, sondern repräsentiert nach ihrer beider gemeinsamen Einschätzung die untere Mittelschicht. Unsere Tochter kann das einschätzen; sie hat nun insgesamt zweimal jeweils einen mehrmonatigen Arbeitsaufenthalt in den USA absolviert und in dutzende Familien hineingerochen. Sie arbeitete als angehende Lehrerin im schulischen Bereich und unterhielt allein schon durch ihre Tätigkeit enge Kontakte zu vielen Familien. Viele davon hat sie als völlig zerrüttet kennengelernt und auch Dereks Familie macht da keine Ausnahme.

Ich nenne ihn halbironisch "Flüchtling" – er selbst denkt jedoch ziemlich genau in dieser Form über sich und seine eigene Situation. Im Grunde ist er das tatsächlich: ein Flüchtling.

Als Amerikaner findet er hier, wie wir erleben, grundsätzlich immer und überall begeisterte An- und Aufnahme. Man wendet sich ihm zu und findet ihn exotisch, interessant und faszinierend. Es ist höchst erstaunlich, wieviel Englisch plötzlich viele Menschen verstehen und sprechen, auch wenn man merkt, dass es ihnen nicht leicht fällt.
Seinen Nachnamen verraten wir nach Möglichkeit nicht. Denn der könnte ein Ressentiment auslösen, welches tagesaktuell als Phänomen in Deutschland wieder einmal erregt diskutiert wird: Antisemitismus. Derek ist jüdischer Abkunft.
Er hat wohl eine gewisse Problematik in diesem Sachverhalt selbst erkannt, staunte aber nach eigener Erzählung nicht schlecht, als unsere Tochter beim ersten Treffen den Zusammenhang zwischen seinem Nachnamen und der religiösen Zugehörigkeit seiner Familie sofort erkannte. Erst gestern abend noch grinste er breit, kniff uns ein Auge zu und "berichtete", dass unsere Große dann aufgestanden sei und seine Haare auf der Suche nach den Hörnern durchgewuschelt hätte. Natürlich protestierte sie empört und natürlich war das alberner Unsinn.

Die Freunde unserer Kinder finden ihn jedenfalls klasse; er verfügt schon jetzt über einen ganzen Katalog von Einladungen und diversesten Angeboten. Unser Ältester hat ihn im Handumdrehen schon in seine Stammtischrunde integriert.
Wir zwei beiden hatten von Anfang an einen starken Draht zueinander. Obschon wir bisher kaum ein Sterbenswörtchen über spirituelle Fragen gewechselt haben, orientiert er sich mit seinem Speisezettel an meinem. Er begegnet mir mit allem fröhlichen Respekt, erweist meiner Frau und mir alle Ehre und verpasst trotzdem keine Chance, einen Kalauer auf unsere Kosten zu reißen.

Ich bin hochzufrieden und Allah noch ein Stückchen nähergekommen. Ich verstehe was es heißt, als Muslim in der letzten Ramadanzeit eine besondere Aufgabe zugewiesen zu bekommen – und so verstehe ich die Ereignisse. Selbstverständlich folge ich meiner Auffassung und betrachte es geradezu als Ehre und als Chance, meinem Umfeld beweisen zu können, dass Muslime keine Judenhasser sind – wenn man sie nicht dazu macht.

Unsere Familie wird jetzt in der Kommunikation mit ihm anwachsende Teile unserer Kommunikation auf Deutsch verändern. Dabei lernt er blitzschnell. Gestern orderte er bereits völlig eigenständig einen Kaffee mit Milch und Zucker – obschon er vorher kein einziges Wort verstanden, geschweige denn deutsch gesprochen hatte. Er hat nun drei Monate Zeit, sich sprachlich zu entwickeln und Grundvoraussetzungen für eine Arbeitsaufnahme zu klären; als Sozialarbeiter, der von Haus aus englisch, ein profundes, gelerntes Spanisch und dann bald Deutsch spricht, sollte sich etwas für ihn finden lassen.

Ich habe mich gestern noch bei allen Kindern für die Selbstverständlichkeit, mit der sie Derek empfangen und einbezogen haben, bedankt und habe ihnen von meinem großen Stolz auf sie berichtet. Ich bin ein glücklicher Mann.
Wenn ich denn heute sterben sollte, hinterließe ich ein geordnetes Feld mit selbständigen, aufrechten wie unbeugsamen Menschen, an deren Entwicklung ich großen Anteil habe. Nach der Pflicht widme ich mich nun also mit größtem Vergnügen der Kür.

Subhanallah!

Ich bin Allah über alle Maßen dankbar für die Chance, ein noch besserer, noch gefestigterer Muslim werden zu können und mit noch festerem Schritt auf seinem Pfad gehen zu dürfen.

Über echsenwut

Ein Islamkonvertit; Ehemann, Familienvater, arbeitet im Marketing, unsterblich verliebt in Ägypten. Die Eule, mit deren Bild er gern kokettiert, steht für den Buchstaben "M" in den altägyptischen Hieroglyphen - und damit für das Initial seines Vornamens. Überaus leidenschaftlich in allem, was er tut; immer viel zu laut, zu präsent, engagiert. Man sagt: intelligent. Ich auch. :-)
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